Was wäre, wenn Europa von unten zusammenwüchse?

Rede Dr. Birgit Schliewenz im April 2013 vor der rumänischen Regierung, dem Seminar zum Thema „Regionalisierung: Deutsche und Französische Perspektiven“, veranstaltet durch die Deutsche und die Französische Botschaft  unter Schirmherrschaft des Rumänischen Senats (- gekürzt -)

Der Weg zum Europa der Regionen war lang.

Heute bewegen wir uns wie selbstverständlich in diesem fast grenzenlosen Raum – und grenzenlos ist dabei wörtlich gemeint.

Und bei allen Problemen, mit denen das Konstrukt Europa – das lebende Projekt Europa und die Idee Europa – konfrontiert ist, beschäftigen sich Philosophen, Politiker, Vordenker weiter mit der Frage, wie ein wirklich geeintes Europa aussehen könnte.

Was wäre, wenn Europa von unten zusammenwüchse?
In Brüssel kümmern sich viele Fachleute um die äußere Gestalt der europäischen Einheit – und das ist schwer genug! Gelebt aber wird Europa bei und durch jeden Einzelnen zu Hause, in den Regionen, Kreisen, Kommunen. Hier ist Europa häufig zwar präsent, aber selten wirklich erlebbar und greifbar. Um hier voranzukommen bietet das Europa der Regionen einen guten Rahmen und gute Anknüpfungspunkte.
Ein Beispiel dafür ist die Zusammenarbeit zwischen dem Land Brandenburg und der Region Centru. Diese Zusammenarbeit wird in Brüssel als ein Modell betrachtet, wie die Menschen in ihrem Umfeld, über gemeinsame Aktivitäten und Projekte, zusammenfinden. So wie die Partnerschaft  zwischen dem Land Brandenburg und der Region Centru sollte regionale Zusammenarbeit funktionieren – befand Herr Ahner, bis Ende 2012 Generaldirektor der Generaldirektion für Regionalpolitik der Europäischen Kommission.
Diese Zusammenarbeit ist gewachsen und wächst – Schritt für Schritt – aus Twinning-Projekten, aus Nachfolgeprojekten, aus bi- und multilateralen EU-Projekten, aus gegenseitigen Besuchen von Politikern, von Fachleuten, von Jugendlichen, von Touristen. Es entwickelt sich eine stabile und belastbare Partnerschaft zwischen zwei Regionen, deren gemeinsame Ausgangssituation der Transformation in gemeinsamen Erfahrungen mündet. Eine Partnerschaft, die zur Lösung von Problemen beitrug und beiträgt, die europäische Dimensionen haben. Eine Partnerschaft, die ziemlich früh wichtige Themen in die europäische Diskussion einbrachte.
Mit den 2002 für Twinning eingesetzten Geldern der Europäischen Kommission und später mit den Geldern des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie wurde eine wirklich nachhaltige Entwicklung in den Beziehungen zwischen zwei Regionen in Europa befördert. Beide Regionen werden durch die und mit der Zusammenarbeit stärker.

Was wäre, wenn diese Zusammenarbeit Schule machte?
2002 hatte sich das Land Brandenburg als ausführendes Bundesland für Verwaltungspartnerschaftsprojekte – auf europäisch Twinning-Projekte – unter anderem in der Region 7 Centru beworben. An der Seite des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie und des Ministeriums für Regionalentwicklung in Bukarest begann für das Land Brandenburg und die Region Centru ein Prozess der gegenseitigen Annäherung. Mit der Finanzierung zweier weiterer FollowUp-Projekte durch das Bundesministerium  wurde vor allem in Kontinuität und Nachhaltigkeit investiert.
Die Region Centru hatte mit deutscher und insbesondere Brandenburger Hilfe über die vertraglich zu erbringenden Leistungen im Rahmen der Verwaltungspartnerschaft hinaus wichtige Akzente bei der Einbeziehung Rumäniens in die aktuelle europäische Entwicklung gesetzt. Themen wie  die integrierte Stadtentwicklung, die Erarbeitung einer Energiestrategie, die Einführung IT-basierter interaktiver Instrumente für die Planungstätigkeit sowie regionales Marketing wurden frühzeitig angesprochen und umgesetzt.
Die Brandenburger Experten haben im Rahmen dieser Projekte etwas sehr Gutes begonnen: sie haben von den eigenen Fehlern zu Hause berichtet und von den Folgen, die diese Fehler auslösten und von dem Geld, mit dem die Fehler beseitigt werden mußten.
Das war zu dem damaligen Zeitpunkt noch sehr neu. Bevorzugt wurde über best practice geredet. Man war stolz auf seine eigenen Ergebnisse und stellte sie vor. Das Gute sollte Schule machen, „nachgemacht“ werden. Aber eigentlich geht es nicht ums Nachmachen. Es geht ums Lernen und ums Anpassen an die eigenen Bedingungen.
Viele Berater aus den alten Mitgliedstaaten hatten im Verlaufe der Erweiterung der EU in ihrer Beratungstätigkeit immer mehr Routine bekommen und begonnen, seelenlos Erfahrungen zu vermitteln. Die Adressaten hatten das deutliche Gefühl, überfahren zu werden, eine fremde Erfahrung aufgezwungen zu bekommen. Ähnlich wie in Ostdeutschland wurden die Leute in Centru das Gefühl nicht los, jetzt kommt die EU und die Berater wissen alles besser, können alles besser. Viele Brandenburger sind bis heute deshalb gefragte Berater, weil sie bewusst dieses Gefühl nicht vermitteln wollten. Sie hatten eben das selber erfahren. Und sie erinnerten sich und ihre Partner immer wieder daran, dass ein eigenes Selbstbewusstsein für den bevorstehenden Prozess des Beitritts zur EU sehr wichtig ist.
Ein anderer Charakterzug der Brandenburger Experten war,  dass sie sich nicht mit Antworten wie: haben wir nicht, oder haben wir  noch nie gemacht, oder das haben wir nie gebraucht, diese Zahlen gibt es nicht usw. zufrieden gegeben haben. Sie haben mit sehr großer Geduld und Hartnäckigkeit erwartet, dass sich die neuen Freunde auch nicht einfach zufrieden geben, sich anstrengen, sich selber Gedanken machen, wie man zu Zahlen oder zu Ergebnissen kommt. Die sich auch führen lassen, wenn der Führende kompetent und qualifiziert ist. Und auch die Weigerung: wir schreiben euch eure Dokumente nicht, aber wir zeigen euch, wie ihr das machen müßt, war wichtig. Sie halfen den Partnern, sich selbst zu entwickeln und zu profilieren. Heute machen die geschulten Spezialisten ihre Arbeit richtig gut!
Ganz systematisch und Schritt für Schritt wurde so ein Vertrauen in die Experten, in die politische Unterstützung und in eine gegenseitige Verlässlichkeit aufgebaut. Es entstanden persönliche Bindungen und Freundschaften. Institutionen haben Vereinbarungen über ihre Zusammenarbeit abgeschlossen. Gemeinsame EU-Projekte boten die Zeit und die finanzielle Basis für die Ausweitung der Zusammenarbeit. Die Partner konnten sich langsam aufeinander einstellen. Auf dieser Basis hat sich zwischen Brandenburg und Centru etwas – in und für Europa noch – sehr Besonderes entwickelt.

Was wäre, wenn sich beide weiter zum gegenseitigen Vorteil entwickelten?
Je mehr aus der Beratung eine Zusammenarbeit wurde, desto häufiger wurde in Brandenburg die Frage gestellt: Und was haben wir davon?
Zwei Beispiele:
Erstens: Die Brandenburger Landesregierung erkannte vor dem Hintergrund ihrer aktuellen Probleme den Wert einer fundierten Bevölkerungsprognose und die Notwendigkeit zu reagieren. Die Erkenntnis des demografischen Wandels „wanderte“ mit den Brandenburger Spezialisten nach Centru. Hier waren – ein wenig zeitversetzt – die gleichen Tendenzen zu beobachten und zu prognostizieren. Und es war auch die gleiche Reaktion der Politiker zu beobachten: sich zunächst unpopulären Erkenntnissen zu verweigern.
Gemeinsam und intensiv haben sich Fachleute und Politiker in beiden Regionen mit dem Thema beschäftigt.
Sie haben auf der europäischen Ebene den Prozeß der Auseinandersetzung mit dem demografischen Wandel und mit der Suche nach politischen Steuerungsmöglichkeiten mit angestoßen. Das Land Brandenburg gilt heute europaweit als kompetent in Fragen des demografischen Wandels. Es sind Arbeitsplätze durch EU-Projekte in beiden Regionen entstanden und für einige Vereine waren die Mittel existenzsichernd! Heute gibt es einen Demografiecheck für die Bewilligung von Fördermitteln, um keine öffentlichen Gelder in Projekte (insbesondere der Infrastruktur) zu investieren, die in absehbarer Zeit nicht mehr gebraucht werden.
Ein zweites Beispiel: Das Land Brandenburg hat 2012 zum dritten Mal in Folge als Gesamtsieger den „Leitstern – Bundesländerpreis für erneuerbare Energien“ erhalten. Es gilt als führend in der Bundesrepublik, was diesen Bereich anbetrifft. Parallel mit den Erfahrungen, die das Land Brandenburg sammelte, haben Brandenburger Experten für dieses Thema auch in der Region Centru geworben. Der Offenheit der ADR Centru und des Regionalen Entwicklungsrates ist zu danken, dass die Region sich sehr früh mit den Potentialen in Centru beschäftigt hat. So können mit der Energiestrategie der Region Centru auch Fehlentwicklungen vermieden oder begrenzt werden. Es  wurde ein gemeinsames EU-Projekt im Rahmen des 7. Forschungsrahmenprogramms der EU durchgeführt, mit dem aktiv dafür geworben wurde, dass dieses Thema auch europaweit eine größere Rolle spielte. In Brandenburg und Centru sind Diskussionen in den Forschungszentren für erneuerbare Energien befördert worden. Es entstanden Arbeitsplätze.

Was wäre, wenn sich diese Partnerschaft auch für Brüssel sichtbar weiterentwickelte?
Die Zusammenarbeit auf den unterschiedlichsten Ebenen, die gegenseitigen Besuche  von Politikern und Experten, die vielfältigen Themen der Zusammenarbeit, die Zahl der gemeinsamen multi- und bilateralen Projekte, die Unternehmerreisen und Wirtschaftsdelegationen, Schulpartnerschaften und die Vorstellung der jeweiligen Region decken vielfältige Themen ab und beruhen auf gemeinsamer Projektarbeit und gegenseitigem Nutzen.
Auf Initiative des Brandenburger Ministerpräsidenten, Herrn Matthias Platzeck, wurde im Januar 2008 das erste rumänische Regionalbüro in Brüssel etabliert. Das Land Brandenburg wollte mit diesem Angebot die Region Centru dahingehend unterstützen, dass Vertreter aus Centru die Chancen in Brüssel für die Region selbst erfahren, eigenständig recherchieren, die weitgefächerten Möglichkeiten der regionalen Zusammenarbeit rasch zu nutzen verstehen. Die Vertreter im Ausschuß der Regionen, die aus Centru und anderen Teilen Rumäniens kamen, haben das Regionalbüro schnell zu schätzen gewußt. Die Zusammenarbeit, die sich unter dem Dach der Brandenburger Landesvertretung entwickelte, die gemeinsamen Aktivitäten, die Möglichkeit der gegenseitigen politischen Unterstützung und der gegenseitigen Hilfe bei der Wahrnahme der Interessen gegenüber Brüsseler Institutionen dauern an. Gerade in Zeiten der Neuausrichtung der EU-Förderpolitik können gemeinsame regionale Initiativen eine immense Ausstrahlung erreichen.
Was wäre, wenn es nun auch noch passendere Strukturen gäbe?
Eine projektgestützte Zusammenarbeit zwischen einem deutschen Bundesland und einer Region, die sich freiwillig aus dem Zusammenschluss von Kreisen gebildet hat, kann – wie man an unserem Beispiel sieht  – recht gut funktionieren. Eine verwaltungstechnische oder eine Zusammenarbeit von unterschiedlichen Institutionen ist hingegen nicht immer ohne Komplikationen. Vielfach sind Anregungen oder Initiativen an Grenzen gestoßen, weil die administrative Zuordnung von Entscheidungsträgern Komplikationen aufwarf. Das Problem stellte sich mitunter auch auf der politischen Ebene im Land Brandenburg. Zuweilen gestaltete es sich schwierig, die gleiche Ebene zu finden.
Ohne eine ständige Vermittlung und Unterstützung der Kommunikation wäre die Mehrzahl der Projekte höchstwahrscheinlich nicht zustande gekommen. Daher wünschten sich die Brandenburger eine starke, administrativ fest verankerte Partnerregion mit stabilen Ansprechpartnern, mit Kompetenzen einer Steuerung der regionalen Entwicklung, einer wirklich exekutiven Rolle, mit  verbindlichen Planungsdokumenten, mit Mitteln  für ein eigenes Budget zum Ausgleich von territorialen Disparitäten, für eine effiziente Wirtschaftsförderung und für eine stärkere Profilierung der regionalen Strukturen.

Was bleibt?
Mit der Osterweiterung haben sich nicht nur die Grenzen der Europäischen Union verschoben. Die eingetretenen Veränderungen haben sich im Vergleich zur Süd-erweiterung als drastischer erwiesen. Alte Konflikte haben neue Dimensionen bekommen und neue sind hinzugekommen.
Um so wichtiger ist unser Europa der Regionen; um so erstrebenswerter ist die Verringerung der Unterschiede in den Rahmenbedingungen für die regionale Entwicklung, um so bedeutsamer ist ein effizienter Einsatz der europäischen Mittel für die territoriale Kohäsion.

Wir brauchen:

  • Ein Europa, das von unten zusammenwächst.
  • Ein  Europa der Regionen, das erlebbar – anfassbar – ist.
  • Regionale Partnerschaften, die zum gemeinsamen Nutzen gedeihen und auf gegenseitigem Respekt beruhen.
  • Eine Politik für Regionen, die den Regionen Spielraum gibt.

Brandenburg und Centru gehen seit über 10 Jahren ein Stück des Weges gemeinsam – einen Weg, den wir Transformationsprozess nennen. In Centru sagt man, wir haben einen Freund gefunden. Was als Know-How-Transfer begonnen hat, ist heute längst eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe und zum gegenseitigen Vorteil. Diese Zusammenarbeit  ist ein sehr lebendiges Beispiel für das Europa der Regionen.

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